Fair is foul,
 
ZUR SUCHT DES ÜBERLEBENS

Alle Menschen sind sterblich; doch was sie verbindet, trennt sie zugleich. Denn der Tod ist zwar gewiss, aber sein Eintreten unbestimmt; nur dass wir sterben werden, ist sicher, nicht wie, wo oder wann. Denn wir sterben nicht gemeinsam, sondern allein, in verschiedenen Augenblicken. Selbst Katastrophen oder Unfälle, ja sogar die Todesarten der Liebe respektieren eine Reihenfolge. Die mögliche Solidarität der Lebenden gegen den Tod wird also von vornherein durchkreuzt: in der fatalen Evidenz des Überlebens.

Stehen unter Liegenden. Nicht umsonst wird der Herrscher durch sichtbare Unterwerfung - mit gesenktem Kopf, gebeugtem Knie, zu seinen Füßen ausgestrecktem Körper - anerkannt. Wer gegen den Machthaber revoltiert, will dagegen ebenfalls stehen; er zettelt buchstäblich eine Erhebung an, einen Aufstand, der zum Sturz, zur Niederlage führen wird. "War er in der Schlacht, so hat er mitangesehen, wie die anderen um ihn gefallen sind. In der wohlbewussten Absicht, sich gegen die Feinde zu behaupten, ist er in die Schlacht gezogen. Es war sein erklärtes Ziel, möglichst viele von ihnen zu erlegen, und siegen kann er nur, wenn ihm das gelingt. Sieg und Überleben fallen für ihn zusammen", betont Canetti.

Die Asymmetrie des Todes - die Differenz zwischen Gewissheit und Unbestimmtheit seines Eintritts - kann sich in der Evidenz des Überlebens, im Machtrausch des Siegs über zahllose Tote manifestieren, aber auch in der genealogischen Paranoia der Herrschenden, die der Gewissheit entspringt, dass alle Überlebenden irgendwann selbst überlebt werden, ja dass die Nachkommen schon geboren sind, die mich begraben werden. Dem Überlebenden sind daher die Kinder die schlimmsten Feinde; denn ihre Macht besteht im höheren Überlebenspotential, im möglichen Anspruch auf Nachfolge und Thron.

Zu den Symptomen der paranoischen Sucht des Überlebens, gehören von Anfang an Visionen, phantastische Albträume, Ängste. Im blutigen und im gekrönten Kind der Erscheinungen verkörpert sich der Macbeth-Komplex: als Angst vor dem Thronrivalen, als Angst vor dem anderen Überlebenden, dem blutig geopferten und zugleich blutsverwandten Kind und nach der Ermordung Banquos, gemäß der Prophezeiung der Hexen "Nicht König, aber Vater von Königen!" sieht er das blutige Gespenst des Toten an der gedeckten Tafel.

Ähnlich ergeht es Lady Macbeth, die erst ihren Mann als Feigling verspottet und über den Aufstieg zur Königin jubelt: "Wollust der Macht! Szepter, endlich mein! Jedes sterbliche Verlangen wird durch dich gestillt." Jedes sterbliche Verlangen? Nicht gestillt werden darf bloß das unsterbliche Verlangen, die Sucht nach Unsterblichkeit, nach dauerhaftem Überleben. Ihr Waschzwang gipfelt im Selbstmord; die ultimative Reinigung erfasst nicht nur Hände und Erinnerungen, sondern den ganzen Menschen. Der Macbeth-Komplex bekennt seine Ohnmacht.

Nur oberflächlich geht es um Schuld, Strafe und Buße, um die wiederholte Reinigung schmutziger Hände, um die Auslöschung oder Verzeihung böser Taten. Im Zentrum der Zwangshandlungen wirkt vielmehr das Begehren, die Zeit - den Tod selbst - aufzuhalten.

Thomas Macho 'Der Macbeth-Komplex. Zur Sucht des Überlebens'


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